Etappe 5 Nicht alle Wege führen nach Rom
- PH16
- 2. Jan. 2021
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Jan. 2021
Mir fallen die ersten Worte zu dieser Etappe etwas schwer. Zu Präsent sind noch die Erinnerungen, an diesen nie enden wollenden Tag. Ich kann euch allerdings versprechen, dass es nach dieser Etappe nur noch bergauf geht! Also metaphorisch gemeint, denn klar geht es ab jetzt in Richtung Ostsee nur noch bergab. Es wird ein Tag, voll mit Rückschlägen und Ratlosigkeit, aber auch mit völlig unerwarteten Begegnungen und lohnenswerten Reisemomenten. Also schnallt euch an und und zieht euch die 37km lange, Ekel-Kack-Dreck-Schmutz-Blutig-Juckend-Scheiß-Etappe rein!
8:00 Uhr am Dienstag den 18.8.2020. Wie eine Sirene während eines Luftangriffes, schallt mein Handy durch mein Einmannzelt. Zu groß ist mir die Gefahr, das ich aufgrund meiner Erschöpfung früh den Wecker nicht höre und noch hektischer werde, als ich es ohnehin schon jeden Morgen bin. Nachdem aufgrund dessen gefühlt 10 Leute in einem Radius von 20 Meter um mich herum mit wach werden beginnt der Tag. Ich habe jetzt leider kein Auge mehr für die Schönheit des Sees, der direkt neben meinem Zelt liegt. Zu beschäftigt bin ich damit meine Füße zu präparieren, mir 2 Vollkornbrötchen reinzustopfen und mein Wurfzelt zusammen zu bauen. Am letzten Abend noch erfolgreich verdrängt, weiß ich nun, das heute ein sehr weiter Marsch vor mir liegt. Es sollte allerdings noch wesentlich mehr Strecke werden, aber dazu später mehr.

(Feldberger Haussee, mit den Inseln Grabenwerder, rechts und der Liebesinsel, links)
Bereits am Feldberger Haussee, verlaufe ich mich das erste Mal. Vorwiegend kann man mir da eigentlich keinen Vorwurf machen, denn der See mit seinen beiden Inseln Namen "Grabenwerder" und der "Liebesinsel", lassen mich schlichtweg vergessen, auf mein Handy zu gucken, um mich zu orientieren. Ziemlich steil, geht es dann auf dem richtigen Weg, den "Reiherberg" hinauf. Ein passender Name angesichts meiner Übelkeit, nach 2 schnellen Brötchen und der jetzt direkt darauf folgenden körperlichen Anstrengung... Anschließend, geht es in den benachbarten Wald, in dem ich es jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde schaffe mich zu verlaufen. Klar bedeutet Verlaufen, automatisch mehr Weg und größerer Aufwand. das ist die goldene Regel der Mechanik. Allgemein besteht der erste Teil der Strecke bis nach Bredenfelde, fast nur aus Zick-Zack.

(Waldweg, kurz vor Bredenfelde, zur Abwechslung mal gerade und kein Zick Zack)
Kurz vor Bredenfelde, probiere ich eine, auf dem benachbarten Feld wachsende Rübe, direkt aus dem Boden. Der nächste Fehler an diesem Tag, denn was das auch immer für eine Rübe ist, sie schmeckt riesenkacke! Ungenießbar und extrem kratzig im Hals, lässt sie mich meinen gesamten Wasservorrat aufbrauchen, und das bereits um 12:00 Uhr Mittags! Später lese ich, das es sich um Futterrüben für Nutztiere handelt... Was für eine Trottelaktion von mir!
Jetzt allerdings kommt eine Geschichte, die sich so in mein Hirn eingebrannt hat, dass ich sie wohl noch meinen Kindern erzählen werde. Ich verlasse Bredenfelde in Richtung Nordosten auf einem Feldweg und laufe wenig später einen kleinen Hügel hinunter. Ich sehe rechts einen großen Ententeich und links ein sehr altes, in einer großen moorähnlichen Kuhle, aufgebautes Haus. Eingebettet von hohen, alten Bäumen steht hier dieses gruselig, aber irgendwie doch wunderschöne Haus, mit einem kleinen Gartenhäuschen davor, im absoluten Nirgendwo. Alles was hier noch fehlt ist eine auf einem Schaukelstuhl sitzende, ältere Dame, die den ganzen Tag verträumt in Richtung Ententeich schaut. Ich laufe weiter um das Gebäude herum und erschaudere fast, als ich sehe, dass dort wirklich eine alte Dame sitzt und Richtung See guckt. Ich bleibe stehen und gehe dann ganz zögerlich weiter...
"Oh ein Wanderer, das habe ich hier noch nie gesehen. Wenn hier mal einer vorbei kommt, dann nur mit dem Fahrrad." Ich allerdings kann kaum auf ihren Eröffnungssatz reagieren, zu perplex ist dieses Haus, diese Dame, dieses verlassene Stückchen Erde im Nichts.
Sie wohnt hier seit 50 Jahren, die letzten 30 Jahre alleine da ihr Mann viel zu früh ging... Er war Schriftsteller und hat in der ehemaligen DDR, oft Kritisches gegen die Regierung geschrieben und veröffentlicht, so flohen sie hier ans letzte Ende der Welt, um dem ganzen Trubel in Berlin zu entkommen. Sie erzählt mir, dass sie ebenfalls Urberlinerin ist, aus Tempelhof. Wir lästern gemeinsam über Spandau und erzählen uns gegenseitig von unseren Lieblingsorten unserer Heimatsstadt, Ihre Erinnerungen sind dabei mehrere Jahrzehnte alt, das spürt man beim Zuhören. Ein Moment der ewig so hätte weitergehen können! Sie füllt mir meine Wasserflasche auf, schneidet mir extra noch eine Zitrone auf und presst den Saft aus, damit mein Wasser nicht so ''langweilig'' schmeckt. Anschließend bietet sie mir noch ein Eis, Moskauer Art an. Da kann ich nicht nein sagen. Sie bringt mir natürlich 2 mit, denn bis nach Neubrandenburg ist es ja noch ewig hin zu Fuß, sagt sie mir. Was für eine einzigartige Frau, an diesem einzigartigen Ort. WOW!
Goethe sagte einmal: "Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen." Er hatte absolut recht! Nur schweren Herzens verabschiede ich mich von Ihr, aber sie hat Recht, bis nach Neubrandenburg, ist es nun mal noch ziemlich weit. Die nächsten 30 Minuten verfliegen wie im Flug, denn ich kann nicht aufhören an diese ältere Dame zu denken. Wie kommt sie an Lebensmittel? Wer bringt ihr Feuerholz für den Winter? Nur eins ist mir vollkommen klar, sie hätte wahrscheinlich schnelleres Internet hier im Nichts, als ich bei mir in meiner Wohnung ich Berlin-Lichtenberg!
Weitere 30 Minuten später und das Dorf Loitz hinter mir gelassen, muss ich Pause machen. Meine Füße schmerzen. Ich tape die Füße neu, klebe neue Pflaster und gehe jetzt schon auf dem Zahnfleisch. Scheiß schweres Zelt! Das geht auf Dauer nicht mehr gut...
Kurz hinter dem Dorf Teschendorf dann der Supergau! Dafür muss ich allerdings ein wenig ausholen... Meine gesamte Route von Ahrensfelde bis Lohme auf Rügen, ist in mühsamer Kleinarbeit, von mir selber herausgesucht und zusammengestellt worden. Ich konnte mich an einen Ort während der Planung erinnern, bei dem ein Weg bei Google Earth, in ein Waldstück hinein ging, und auf der anderen Seite wieder herausführte. Allerdings war der Weg dazwischen nicht miteinander verbunden... Kein Problem für Paul Herrmann! Der fügt den Weg einfach zusammen! sind ja nur 300m Luftlinie laut Karte! Kein Ding!

(die blaue Linie, symbolisiert Wasser)
...Was für eine dumme, dumme, dumme, dumme Idee!!!
Ich gehe also in den Wald und stehe irgendwann vor einem vollkommen verwilderten, mit hauptsächlich Brennnesseln (!!) bewachsenen, alten Ferienlager...
an verlassenen Baracken und Bungalows vorbei, geht es immer tiefer in den Wald. das Geäst wird immer dichter, der Boden immer nasser und mooriger. Schluss mit lustig, denn ich habe kurze Sachen an und Gestrüpp, Äste und Brennnesseln zerstören meine Beine komplett. Noch 200m Luftlinie bis zur anderen Seite des Waldes, ich habe keine Ahnung wo ich bin und es ist kein Ende zu sehen, nur ganz entfernt helles Licht, was darauf deutet das dort der Wald zu Ende ist. Noch 100m, jetzt muss ich es doch bald mal geschafft haben! Meine Beine versinken immer wieder im Schlamm aber zurück kann ich jetzt nicht mehr, ist ja gleich geschafft... noch 20m, endlich hab ich es zum Waldende geschafft... Doch was zur Hölle ist das denn? ein 3-4 Meter breiter, komplett mit Wasser gefüllter Graben und dahinter ein Meer aus Schilf. Endstation!
In meiner Verzweiflung hoffe ich, drumherum laufen zu können, natürlich vergebens. Über Wildschwein- und anderer Wildwege, kämpfe ich mich durchs Gestrüpp zurück bis aufs offene Feld. Frust, Schmerz und Erschöpfung lassen mich an dem Zweifeln was ich hier tue... Zu mal ich einen Plan B brauche. Der lautet, Umweg zur L331 und dann auf der anderen Seite des breiten Grabens, wieder zurück auf die ursprüngliche Route. Was für ein Umweg und das, nachdem ich jetzt schon über eine Stunde vergebens durch die Gegend geirrt bin. Hinter der Landstraße, muss ich dann zwischen 2 Feldern hindurch, die gerade von 2 Traktoren samt Gerätschaften umgegraben werden. Die werden sich auch gefragt haben, was zum Henker ich da auf Ihren Feldern mache. Das alles nagt unheimlich an meinen Nerven, der Punkt an dem du das alles abschüttelst, weil du bald da bist, kommt einfach nicht. Zu weit ist der Weg noch bis Neubrandenburg (ca.12km). Zwischen dem Dorf Sabel und der Stadt "Burg Stargard", lege ich mich dann auf eine Bank, ich kann nicht mehr. Natürlich lege ich mich genau in eine Wespe! Sie sticht mir ins linke Schulterblatt... Dreckvieh! Ich kann meinen Frust nicht mehr bei mir behalten. Das ist der Tiefpunkt... Ich kann nicht mehr...
Aber ich verspreche, ab jetzt wird es besser, weil sein wir ehrlich, schlechter geht es nicht mehr. Schluss mit dem Gejammere.
Ich schleppe mich nach Burg Stargard und habe nur ein Ziel: eine POST! Ich muss dieses Zelt los werden! Ab jetzt und für den Rest der Wanderung zählt: Jedes Gramm, was ich sparen kann, wird gespart und kommt zurück nach Berlin, jetzt! Ich nehme mein Zelt und packe all die Sachen hinein, die auf dieser Reise verzichtbar sind. Badelatschen, Wechselshirts, Ersatzpullover, Wechselsocken, Wechselshorts, Müsli, und und und. Ich gehe in die Post hinein, und knalle der netten Dame meine Zelt auf die Waage. 3,5kg die ich jetzt für den Rest der Wanderung, jeden Tag weniger zu schleppen habe. Da ist es mir auch scheißegal, das mich die Rücksendung fast 33€ kostet! Was für ein befreiendes Gefühl!
36km war ich zu dem Zeitpunkt schon gelaufen, und ja, ich habe am Anfang von 37 km Etappenlänge geschrieben. Es ging nichts mehr. Eine Zugfahrt erlöste mich. Die besten 6 Minuten Zugfahrt meines Lebens zum Bahnhof Neubrandenburg und anschließend noch einen letzten Kilometer bis zu meinem gebuchten Hostel schleppen. Und der nette Herr am Empfang fragt mich doch wirklich, ob ich mit dem Auto angereist sei. Ich lasse das mal unkommentiert.
45 Minuten lang saß ich auf dem Boden meines Zimmers. 2 Stunden brauchte ich, um mich zu erholen und um in die Stadt zu gehen um etwas zu essen. Selten in meinem Leben war ich so fertig wie zu diesem Zeitpunkt, aber ich war trotzdem glücklich, denn ich wusste, ab jetzt wird alles einfacher. Ganz wichtig waren in solchen Momenten meine Eltern, mit denen ich jeden Abend telefonierte, meine Freunde und meine Familie, die mir schrieben und an mich glaubten! Immer wieder habt ihr mich gepusht und zum Weitermachen bewegt. Danke, ihr wart immer dabei auf meinem Weg und sehr wichtig!

(wenigstens haben die Neubrandenburger Humor, denn wer liebt schon Neubrandenburg?)
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